Artificialia und Naturalia

Wunderkammern sind die neuzeitlichen Vorformen des Museums. Hier wurden „Das Künstliche” und „Das Natürliche” zusammengetragen und öffneten dem Sammler wie seinen Besuchern eine Welt. Ein Prinzip, das sich noch heute als nachahmenswert beweisen kann. Wir machen das zu unserm Projekt.

Selten findet man das Künstliche und das Natürliche in handwerklich derart perfekter Schönheit wie in den Werken
von Vater und Sohn Blaschka aus Sachsen. Das Material ihrer Werke?: Glas!

Foto: KarinaDipold, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Artificialia und Naturalia: das sind die grundlegenden Kriterien der ersten Wunderkammern. Das Künstliche und das Natürliche als Leitideen und Schauobjekte einer ebenso kostbaren wie staunenswerten wie lehrreichen Sammlung. Und: Kommunikationsplattform von Luxus und Wissbegier.
Dieser ersten grundlegenden Teilung gesellten sich rasch Kategorien wie das Pretiose und das Kuriose sowie das Exakte und das Magische hinzu. Die Sammlungs- und Schauräume wurden immer größer vom studiolo bis zur prächtigen Halle, füllten sich allmählich und öffneten dem Sammler und seinen interessierten Gästen eine Welt. Diese Welt wiederum erzählt mittels der Objekte Geschichten (… auch Geschichten über den Sammler).

Wunderkammern sind die neuzeitlichen Vorformen des Museums, wie wir es heute verstehen. Sammlungen, die ihre Vorläufer wiederum in Schatzkammern und Tempeln hatten. Schatz und Kultus waren eng miteinander verknüpft. Zugang war schon im Tempel ein wichtiges Kriterium. Und immer war schon die Inventarliste der Sammlung ein wichtiges Schauobjekt und wurde entsprechend gestaltet und gewürdigt.

Doch nur weil sie aus der Vergangenheit sind, sind sie für unsere Zeit nicht obsolet geworden. Denn auch wenn Artificialia und Naturalia, Pretioses und Kurioses, Exaktes und Magisches aus heutiger Sicht sicher andere Bedingungen erfüllen müssen, um Staunen und Bewunderung auszulösen, erzählen die Objekte noch immer eine Geschichte. Der Kontext der Präsentation spielt dabei eine nicht unwesentliche Rolle.

Deshalb arbeiten wir im Team an einer Neubestimmung des Konzepts Wunderkammer unter Zuhilfenahme von digitalen Mitteln.

Eine der Fragen ist konkret: Lässt sich die Idee der Wunderkammer in digitale Repräsentationen übertragen? Gibt es Übertragungsverluste? Und wenn ja, wie schwer wiegen die? Lassen sich diese Übertragungsverluste ausgleichen? Kann das Digitale Dinge leisten, die im Analogen, im realen Vorhandensein zu einem genauen Zeitpunkt an einem konkreten Ort nicht leistbar sind? Da sind wir rasch bei der Betrachtung des Auratischen. Doch für einen philosophischen Exkurs über die Aura von Dingen ist hier nicht der Ort. Daher seien hier nur rasch zwei grundsätzliche Überlegungen über Aura und digitale Repräsentation erwähnt.

  • Nach meiner freilich höchst subjektiven Beobachtung bei jüngsten Besuchen historischer Ausstellungen in Museen verlieren die Dinge ihre Aura um so mehr, je unempfindlicher die Empfänger (also die Besucher)  für deren Wahrnehmung (geworden) sind. Bei Ausstellungsmachern und -betrachtern herrscht zunehmend Konfusion zwischen angestrebter Vollkommenheit und ins Werk gesetzter (vermeintlich notwendiger) Vollständigkeit. Ist es noch zeitgemäß, eine mittelalterliche Handschrift auf genau dieser einen Seite aufzuschlagen und den Betrachtern damit die 500 anderen Seiten vorzuenthalten? Ist es noch auratisch, den Wasserspeier einer Kathedrale, dessen natürliches Habitat die Regentraufe in vielen, vielen Metern Höhe ist, in einem Ausstellungsraum den Besuchern wohl ausgeleuchtet auf Augenhöhe zu präsentieren?
  • Hat nicht schon vor etwa 40 Jahren das Konzept des musée sentimental einen Ausweg aus der angestrebten Forderung nach Aura des Originalen gewiesen? Und liegt nicht in der Verlängerung dieses Gedankens in die Möglichkeiten der digitalen Repräsentation auch ein Lösungsansatz?

Artefakte in Museen (und anderswo) haben fraglos je ihre Aura. Doch sind Zweifel erlaubt, dass das Auratische solcher Objekte in sorgfältig konzipierten und ausgeführten Ausstellungen verlustfrei an die Betrachter gelangt. Besteht nicht die Gefahr, dass die heutigen Besucher von Ausstellungen aus ihrer Erfahrungswelt des an Informationen überreichen Alltags beispielsweise mit der genau auf dieser einen Seite aufgeschlagenen mittelalterlichen Handschrift im Museum eben nichts mehr anfangen können, weil sie die 500 vorenthaltenen Seiten eben nicht sehen können? Dient es der Wahrheitsfindung wenn man dem Wasserspeier Aug‘ in Aug‘ gegenüberstehen kann?

An dieser Stelle kommt die digitale Bereitstellung ins Spiel. Gegenstände mittels bildgebender oder sogar dreidimensionaler photogrammetrischer Technologien zur Betrachtung aufbereiten, sie assoziativ und günstigstenfalls sogar emotional „aufladen”, sie mit einer Geschichte verknüpfen und so für die Betrachter und zu ihnen ins Verhältnis setzen, kann so viel mehr bewirken.

Allein die praktischen Aspekte sind überzeugend: 1.) solche Präsentationen benötigen keine zusätzliche Ausstellungsfläche, so dass Pretioses und Kurioses, Künstliches und Natürliches aus den Depots präsentiert werden kann, ohne einen Meter Raum aufgeben zu müssen. 2.) die Reichweite wird nahezu grenzenlos und Menschen aus fernen Regionen, die sich seit je für diese Sujets interessieren finden einen Ort ihres Interesses. 3.) Dass die Technologie der Blockchain mittelfristig die Stelle der sozialen Medien einnehmen wird, ist ein weiterer Aspekt. Dadurch wird Zugänglichkeit neu definiert werden.