Wir sind seit 15 Jahren immer noch am Anfang
Im November 2008 brach eine Revolution an. Damals nur von Fachleuten bemerkt dauert diese Revolution bis heute an. Und es wird wohl noch einige Jahre brauchen, bis die Folgen dieser Revolution überblickt werden und möglicherweise eingehegt werden können: In besagtem November 2008 erschien die Canon 5D Mark II auf dem Kameramarkt und veränderte für immer die Welt der Filmproduktionen. Dieses Ding, das aussah wie ein gewöhnlicher, hochwertiger Fotoapparat konnte Bewegtbilder aufzeichnen. Und zwar in einer erschreckend guten Qualität. In einer solchen Qualität, dass sogar Kinofilme damit produziert werden konnten. Und das zu einem Anschaffungspreis für die Kamera, der alles bis dahin Übliche in den Schatten stellte. Entscheidend dafür war der eingebaute Bildsensor, ein Vollformatchip, der in der Lage war – salopp formuliert – wie ein menschliches Auge zu „sehen”, ein Motiv zu fokussieren und dessen Umgebung durch Abstufungen von Unschärfe zurückzuhalten. „Filmisch” nennen wir diesen Look. Nicht ohne Grund: derartige Gestaltungsmöglichkeiten im Filmgeschäft waren bis dahin nur mittels sündhaft teurer Kameras und dem Einsatz von chemisch beschichtetem Filmmaterial möglich. Die bis dahin schon vorhandenen ebenfalls sündhaft teuren elektronischen Kameras waren zwar hochpreisig, konnten aber mit ihren Bildsensoren bei weitem nicht diesen „menschlichen Blick” nachahmen. Die Branche geriet in Bewegung.
Die Folgen sind bis heute spürbar: Hochwertige Technik zu mehr oder weniger günstigen Preisen erzeugte eine Flut von Filmproduzenten. Für ein paar Tausender konnte jeder technisch interessierte Bastler, jeder Passbildfotograf und auch sonst jeder, der schon immer mal einen Film machen wollte, in der Branche Fuß fassen. Einer der eher ungewollten Effekte ist eben auch, dass die technischen Möglichkeiten immer hochwertiger, besser und preiswerter geworden sind, wir aber infolgedessen auch eine riesige Halde (oft von Kunden teuer bezahlten) Bewegtbildschrotts haben.
Nur, dass wir uns nicht missverstehen: Meine Argumentation beschuldigt nicht pauschal Fachfremde und Quereinsteiger ins Filmgeschäft sämtlicher Couleur. Aber wir müssen uns dessen gewahr sein, dass wertige Produkte einen Kriterienkatalog beinhalten, der immer seltener befolgt wird. Der durch Jan Böhmermanns witzig gemeinte Clips sprichwörtliche „Photoshop-Philipp” ist ein leider marktbeherrschendes, ganz reales Phänomen.
Schluss mit dem Gemecker: Aufklärung und Weiterbildung für Entscheider statt „Photoshop-Philipp”
Klagen hilft nix. Also begann ich ein Workshop-Konzept zu entwickeln. Gerade durch die coronabedingten Lockdowns war das Bewegtbild-, Lehr- und Erklärfilmgeschäft in Bewegung geraten. Viele Entscheider stellten die Grenzen ihrer Entscheidungsfindungen fest, weil sie feststellen mussten, dass nicht jedes bewegte Bild ein Film ist. Was fehlte, waren verlässliche Kriterien, um den sinnvollen Film von unnützem Medienbrei zu unterscheiden.
Der Workshop für Entscheider, den ich mit wachsendem Erfolg anbiete, hat den griffigen Titel: „Filme ansehen und besser verstehen“.
Das Konzept
Jeder kennt das: Verschiedene Menschen sehen sich ein und denselben Film an. Am Ende gibt es erfahrungsgemäß mehr Urteile über den Film als Menschen, die ihn gesehen haben. Bei genauerer Betrachtung kann es eine schockierende Erkenntnis sein, dass ein schöner Film nicht zwingend „gut” sein muss, wie auch ein guter Film nicht automatisch schön auszusehen braucht. (Dass das Zusammentreffen beider Eigenschaften sicher wünschenswert ist, darüber besteht wohl kein Zweifel!) Nicht alle Aspekte der Bewertung lassen sich auf die berühmt-berüchtigten „Geschmäcker“ abwälzen, die – so wird meistens ebenso versöhnlich wie vergeblich formuliert – nun mal verschieden seien.
Tatsächlich aber – und das ist die gute Nachricht – gibt es eine ganze Menge Kriterien, die sich unter sachlichen, fachlichen, handwerklichen Aspekten betrachten, bestimmen und schließlich sogar bewerten lassen. Angefangen beim Drehbuch, der Plausibilität der Erzählung, über Formulierungen in den Dialogen, Kameraarbeit, Schnitt, Behandlung des Tons, Auswahl und Einsatz von Musik und, und, und. Solche Kriterien zu kennen, kann erheblich zur Verbesserung der Beurteilung von Filmen beitragen. Gerade Menschen, die Budgetentscheidungen zu treffen haben, um filmische Produkte in Auftrag zu geben, gewinnen durch die Kenntnis solcher sachlich-handwerklichen Kriterien deutlich an Sicherheit: weil sie Angebote besser bewerten können, weil sie die Abläufe in professionellen Produktionsprozessen besser verstehen, weil sie das spezielle Vokabular in Gesprächen mit Autoren und Produzenten sicherer beherrschen. Kurz, weil sie durch mehr und bessere Informationen über Filme, und wie diese hergestellt werden, profunder mitreden können.
Der eintägige Workshop „Filmegucken und besser verstehen” vermittelt das Rüstzeug für Leute in der Industrie, in Kultur- und Bildungsinstitutionen, in Presse- und Kommunikationsabteilungen etc., die Anbieter zur Herstellung von Filmen suchen und finden, Filme beauftragen und dafür sorgen müssen, dass für die vergebenen Budgets adäquate filmische Produkte geliefert und eingesetzt werden können.
Keine Sorge: Von niemand wird erwartet, am Ende des Tages im Handumdrehen Filmemacher geworden zu sein. Vielmehr schauen wir uns gemeinsam einschlägige Filme an, erarbeiten uns einen überschaubaren Kriterienkatalog, um die guten von den schlechteren audiovisuellen Produktionen unterscheiden zu können, ein Verständnis über Produktionsprozesse und Freigabestadien zu gewinnen, Einblick in kalkulatorische, organisatorische und auch vertragliche Aspekte von Filmproduktionen zu nehmen. Wir werden uns dabei nicht in Details verlieren.
Der klar erkennbare Mehrwert ist: Aus einer solchen Kenntnis können künftige Projekte meistens schon besser geplant, Ausschreibungen spezifiziert und Aufträge konsistenter vergeben werden.

Die wichtigsten Kapitel des Workshops „ Filme ansehen und besser verstehen”
01. Bewegtes Bild
Über zeitbasierte Medien, ihre Eigenschaften und deren Tücken. Nicht alles, was wie ein Film aussieht, weil sich die Bilder bewegen, verdient diese Bezeichnung auch.
02. Wie alles begann
Keine Sorge, wir fangen nicht beim Zelluloid an, aber wir betrachten gründlich den Medienwandel, der sich seit gut zwölf Jahren vollzieht und die Produktionsbedingungen von Filmen massiv beeinflusst hat.
03. Vertriebswege
Jeder TikTok-Kanal kann heute das leisten, was vor wenigen Jahren nur weltweit operierenden Filmverleihern möglich war.
04. Der Fluch der Schulparty
Was die Anbieterszene von Bewegtbildformaten heute mit nur schwer anlaufenden Schuldiscos und müden Geburtstagspartys in den Achtzigern zu tun hat.
05. Mehr Universalgenies!
Film – so lernt man an der Uni – ist ein extrem arbeitsteiliges Geschäft. Das gilt kaum noch für handelsübliche Videoproduktionen. Mit deren Rückverwandlung in One-Man-Shows gehen viele Reibungsverluste einher. Es gibt einfach zu wenig Universalgenies! Aber Scherz beiseite: Wir betrachten unverzichtbare Arbeitsschritte der Filmproduktion und porträtieren die Anbieterszene von David Fincher bis „Photoshop-Philipp”.
06. „Die Rechnung, bitte!”
Von sichtbarem und unsichtbarem Arbeitsaufwand und wie beide kalkuliert werden können. Wir versuchen uns an Großmutters Weisheit, dass arme Leute teuer kaufen müssen oder dass, wer billig einkauft, immer zweimal kaufen muss. Bei der Gelegenheit fragen wir die schwäbische Hausfrau nach ihrer Meinung zu der Weisheit: „Was nix koscht’, das taugt auch nix.”
07. Elementenlehre
Welche Kriterien erlauben uns, ein audiovisuelles Werk als „filmisch” zu bezeichnen. Es gibt die sicht- und hörbaren Elemente eines Films, aber auch: die nur mit gut trainierter Aufmerksamkeit zu identifizierenden Elemente. Und die sind am Ende oft wirklich ausschlaggebend.
08. Die Geschichte ist immer der Boss
Erzählt Geschichten! Ein leidenschaftliches Plädoyer für’s Erzählen, nicht ohne zu bedauern, dass es oft von seinen vermeintlichen Sachwaltern den content creators und storytellers schlimm gebeutelt wird.
09. Formen und Formate
Wir sprechen über die Werkzeugkästen der Erzähler UND über die Werkzeuge derjenigen, die Bilder gestalten. Klassische Formate und neue Formen. – Ein kurzer Überblick über Porträt, Interview, Dokumentation und Reportage, Erklärstück, Nachricht im Film (NiF) und einige andere mehr.
10. Die Möglichkeiten der Montage
Man kann Filme so editieren, dass man sie zu öden Aufzählungen oder zu unauflösbaren Intelligenztests schneidet. Montage ist ein wichtiger Faktor bei der Entstehung eines Films und auch eines der einflussreichsten Stilmittel für dessen Gestaltung. Reden wir darüber! Und vielleicht beantworten wir im Zuges dessen auch die Frage: Warum gefühlt 95% aller Filme als Semesterarbeiten mit einem Radiowecker beginnen.