Heimatforschung 4.0

Heimatforschung 4.0

Heimatforschung 4.0 überträgt den Gedanken des musée sentimental ins 21. Jahrhundert, berücksichtigt digitale und audiovisuelle Lösungen sowie modernste gestalterische Technologien.

Die Geschichte ist immer der Boss

Heimatforschung 4.0 ist ein Erklärungsansatz wie Auseinandersetzung mit regionaler Geschichte in Zeiten von um sich greifender Geschichtsvergessenheit gelingen könnte. Heimatforschung 4.0 – so wie ich es verstehe – bedeutet die Aufbereitung von Geschichte und ihre mediale Vermittlung, indem Bezüge zur Gegenwart geschaffen werden, ohne in den Mitteln billig oder gar ranschmeißerisch zu sein.
Sammeln, Katalogisieren und Wissen zu archivieren, reichen heute nicht mehr aus. Vielmehr hat die (gut recherchierte und gut) erzählte, kreativ gestaltete Geschichte eine aussichtsreiche Chance auf Interesse zu stoßen.
Was lange zu gelten schien, gilt nicht mehr: Das bloße historische Datum oder das bloße historische Objekt allein erzeugen kaum noch Aufmerksamkeit, geschweige denn Interesse. Wo früher die kommentierte Präsentation ausreichte, man es den Menschen überließ, eigene Schlüsse zu ziehen, da muss heute eine mediale Übersetzung greifen. Leider gelingt das oft nicht verlässlich, weil a) wie wir aus der Kaffeewerbung der 70er wissen, Mühe allein nicht genügt und b) es eine behutsame Auswahl der Mittel geben muss. Richard Löwenherz’ Schiffsreise in den Kreuzzug anno 1187 mit einem Smartphone-Chat zu illustrieren, ist aus so vielen Gründen falsch gedacht und gemacht, dass es sich auch dem schlichtesten Gemüt als Fehler selbst erklärt.

Mediale Übersetzung darf nicht ranschmeißerisch geschehen, etwa indem beachtliche historische Vorgänge in schlichte Vergleiche gezwungen werden und damit eine Gleichrangigkeit insinuiert wird, die durch eben jenen behaupteten Gleichrang nur verlieren kann (wie unlängst in einem Museum eine Königswahl des 13. Jahrhunderts zur Wahlberichterstattung des ZDF runtergeschliffen und damit nichts, aber auch wirklich nichts gewonnen wurde … Kein Mensch versteht die Königswahl Rudolfs von Habsburg besser, weil die Chefredakteurin des ZDF, Bettina Schausten, vor schmerzhaft hämmernder News-Musik aus einem Großbildschirm einen Text aufsagt, der wie „heute”-Nachrichten klingt und Altes erklären soll).

Heimatforschung 4.0 geht ins Detail und setzt Geschichte sinnvoll ins Verhältnis.

Es gibt einen guten Grund, warum Heimatforschung immer auch ein wenig skeptisch betrachtet wird. Denn nur all zu oft leiden deren Verlautbarungen an der Überhöhung der gezogenen Schlüsse: Kaum zu zählen die Orte in Deutschland, in denen meist pensionierte Lehrer, Pfarrer, Landärzte oder andere Honoratioren die Schlacht im Teutoburger Wald verorteten, in ihren Vorgärten Spuren von Hannibals Elefanten auszumachen meinten oder Zeugnisse anderer bedeutender Ereignisse der Weltgeschichte ausgerechnet in einer alten Truhe auf dem Dachboden des städtischen Rathauses entdeckten. Heftigste Diskussionen in den Leserbriefspalten der Lokalpresse oder wahlweise in sozialen Medien gehören unvermeidbar dazu. Heimatstolz in allen Ehren, doch muss damit auch verbunden sein, das lokale Ereignis historisch ins Verhältnis zu setzen.

Heimatforschung 4.0 hegt den Heimatstolz ein, weil der nur zu oft den Blick auf die Tatsachen verstellt oder über solche Umwege der Interpretation lenkt, das der Tatsachenkern vor aller Augen dahinschmilzt. Heimatforschung 4.0 setzt nicht zwanghaft jeden in der Nähe eines Ereignisses Geborenen mit dem Ereignis in eins. Und in den allerseltensten Fällen hat der mehr oder weniger lang dauernde Aufenthalt einer historisch prägenden Persönlichkeit an einem Ort eben diesen Ort und seine Menschen besser gemacht oder auch nur marginal beeinflusst. Vielmehr ist die Zahl der Situationen groß, wo heute Bürger eines Ortes die Anwesenheit einer Persönlichkeit auf ihre Schilde heben, während im historischen Zeitraum die Bürger desselben Ortes alles versucht hatten, um genau diese Persönlichkeit zu schmähen, zu mobben, loszuwerden …

Heimatforschung 4.0 reflektiert auch diese Zusammenhänge, berücksichtigt, dass nicht wenige historische Ereignisse oft sogar unbeachtet von deren zeitgenössischer Umgebung passierten, und würdigt die Momente und ihre Objekte. In meinen Augen erweist sich dabei etwa Daniel Spoerris Konzept des musée sentimental als besonders tauglich. Es ist heute an uns Menschen des 21. Jahrhunderts, dieses Konzept weiterzudenken und digitale Lösungen sowie audioviduelle Umsetzungen in dieses Denken einzubeziehen:

Inhaltlich mit dem Thema verknüpfte Objekte erzählen eine/die Geschichte. Ohne aus sich heraus „auratisch” zu sein, sind sie dennoch mit Inhalten, Gedanken, Emotionen aufgeladen und führen das Publikum an das historische Thema heran. Ich selbst hatte das Glück, schon einige solcher Präsentationen im Geiste des musée sentimental erleben zu dürfen (für mich am eindrücklichsten war sicher Peter Greenaways „100 objects to represent the world”, 1992 in Wien, aber auch die Landesschau Sachsen-Anhalts in einem verlassenen Kraftwerk an der Elbe anlässlich der Expo 2000).

In der Reflexion über diese Erfahrungen entwickelte ich diese Idee der Heimatforschung 4.0, die sich als digitales musée sentimental materialisiert. Ereignisse, Biographien, Menschen und Objekte werden dabei inhaltlich „aufgeladen” und behutsam an das heutige Verständnis von Geschichte herangeführt. So entstehen audiovisuelle Präsentationen, historisch und topographisch ins Verhältnis gesetzt.

Und weil historische Ereignisse auch heute verstanden werden wollen, gehört es bei NXDRF.DE immer zu den grundlegenden Überlegungen dazu, Ereignisse für das Hier und Jetzt zu entwickeln, die die historische Situation in unsere Gegenwart übersetzen. Das kann eine von Bühnenbildnern gestaltete Ausstellung sein oder ein kulinarisches Fest, um die Küchenrevolution eines Auguste Escoffier zu feiern, das sind Symposien für Wissenschaftler oder erlebnisreiche Workshops für Schüler. Denn Heimatforschung 4.0 bedeutet eben auch, die Betrachter vor der Museumsvitrine nicht ratlos und nicht allein zu lassen.

Nicht ohne einen Anflug von Ironie wählte ich zur Illustration dieses Kapitels „Heimatforschung 4.0” einen Film über einen Heimatfoscher aus: Walther Götze.

Dieser Film erklärt eine lokale historische Begebenheit verbunden mit einer Anekdote, die – wenn sie wahr wäre – für alle Protestanten welthistorische Bedeutung haben könnte: Martin Luthers Aufenthalte in Oppenheim vor und nach seinem Auftreten auf dem Reichstag in Worms 1521 sowie die damit verbundene Anekdote, dass Luther im Oppenheimer Gasthaus „Zur Kanne” die Hymne der protestantischen Christenheit „Ein‘ feste Burg ist unser Gott” verfasst haben soll.
Und weil Geschichte gerne auch erleb- und genießbar sein soll, haben wir damals auch einen Wein zum Projekt vertrieben.