Projektbeschreibung:
Das Projekt Sentimental journey digital ist ein Anwendungsbeispiel für den Umgang mit alten Fotos aus Archiven, die mittels Bildbearbeitung und Animation in 2,5-D-Räume umgewandelt und so „wiederbelebt” werden. Mittels dieser Auflösung in animierte Räume lassen sich alte Fotografien aus Depots und Archiven zu Geschichten erzählenden Objekten einer nützlichen Anwendung zuführen. Geeignet für Museen, Archive, private Sammlungen …
Ida und August
Ida und August sind zwei reale Menschen, die vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs lebten. Bei aller Wirklichkeit ihrer Existenz haben, sie sich zeitlebens nie getroffen. Ida und August sind Motive von zwei sehr verschiedenen privaten Fotografien aus der Zeit um 1910. Diese Fotografien sind Stücke einer Sammlung. Leitmotive dieser Sammlung sind das private und das gesellschaftliche Leben sowie die Lebensumgebungen der Menschen in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Also in einer Zeit als Europa so völlig anders war, als wir es heute kennen. Die Städte sahen anders aus, die Menschen lebten völlig anders als wir heute, sie identifizierten sich anders in ihren Lebenskontexten.
Wenn ich diese alten Bilder aus der Frühzeit der Fototechnik betrachte, habe ich das Empfinden, dass allein durch dieses Betrachten die Menschen auf den Fotos eine Verlängerung ihres längst beendeten Lebens erfahren: da ist jemand, der sie ansieht, der sich Gedanken über sie macht. Ihre Gräber mögen längst eingeebnet, ihre Grabsteine mögen schon vor langer Zeit verrottet sein und dennoch: Zumindest in den Überlegungen ihres Betrachters sind diese Menschen wieder in der Welt. Wenn man so will setzt sich hier jene Idee fort, die ihren Niederschlag schon in den Pyramiden Ägyptens oder in den Grabmälern europäischer Kathedralen gefunden hatte: Im Gespräch der Lebenden zu bleiben, um seine eigene Ewigkeit wahrscheinlicher zu machen.
(Zeit-)Reiseveranstalter eines Gedankenexperiments
Diese Beobachtung führte zu einem Gedankenexperiment: Wenn Ida und August also in den Phantasien ihrer Betrachter zu einer neuen – ja, phantastischen – Art des Weiterlebens finden, warum sollte ich sie dann nicht auch etwas erleben lassen? So wurde ich zu Idas und Augusts Reiseveranstalter. In meiner Phantasie stattete ich die beiden mit der Superkraft durch Raum und Zeit reisen zu können aus und wählte ihre Reiserouten aus. Die Reise der beiden ist ein Spiel. Ein Spiel mit Geschichte, Geschichten und Phantasie. Ihre Reiseziele waren und sind Schauplätze von Geschichte und Geschichten. Manchmal sind es Orte mit kleinen Geschichten. Manchmal sind sie Handlungsorte dramatischer Geschichte. Was alle Bilder dieser Serie gemeinsam haben, ist, dass sie eine Welt zeigen werden, die vor zwei Weltkriegen in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von allen Zerstörungen unberührt waren. Manche der von Ida und August bereisten Orte bilden Schauplätze von berühmten Romanen oder von weltgeschichtlichen Ereignissen ab. Andere illustrieren möglicherweise nur die verschütteten Erinnerungen an längst vergangene Zeiten.
Kurzum: Das Vehikel der beiden sind Ansichtskarten ihrer Epoche. Ja, Ihr habt richtig gelesen: Ida und August reisen durch echte Ansichtskarten der Zeit Ende des 19. Jahrhunderts bis um ca. 1910. Freilich passe ich diese Ansichtskarten behutsam an unsere Sehgewohnheiten an, indem ich die zweidimensionalen Bilder in Räume auflöse und darin Kamerabewegungen möglich mache. Tauchen wir ein in diese historischen zweieinhalb-D-Erlebnisse!
Ida
Eigentlich ist der Name der Frau unbekannt. Nennen wir sie deshalb einfach Ida. Ein Grund sie Ida zu nennen, ist, dass dieser Frauenname Ende des 19. Jahrhunderts zu den beliebtesten Taufnamen in Deutschland gehörte. Und schließlich ist Ida ein Kind des 19. Jahrhunderts.
Sie ist eine durchschnittliche Frau ihrer Zeit. Sie ist etwa Ende 30, Mitte 40 alt. Gekleidet ist sie mit einem der damals modischen knöchellangen Kleider, weiß, mit hochgeschlossenem Kragen. Dieses Kleid ist mehr praktisch als festlich. Um den Hals trägt sie eine schlichte Kette mit einem Medaillon als Anhänger. Und vor der Brust anstatt einer Brosche: ein kleines Blumensträußchen. Vielleicht hat sie es während des Feiertagsausflugs auf einer Wiese am Waldesrand gesammelt und zufällig zusammengestellt.
Ida steht im Schatten und hält deshalb ihren ausladenden Hut in der linken Hand. Fotografiert wurde dieses Gruppenbild im Jahr 1910 während eines Ausflugs im südwestlichen Harzumland.
August
Auch den Namen des Mannes kennen wir leider nicht. Ich nenne ihn daher einfach August. Dieser Name war über ganze Zeitalter sehr beliebt. Von den Zeiten des Römischen Reichs (wo Augustus der „Erhabene” bedeutete) bis hin zu den Zeiten, in denen der „Dumme August” die Bezeichnung für einen Clown im Zirkus war. In den Zeiten, in denen unsere Fotos entstanden, waren Männer mit diesem Namen häufig anzutreffen.
Unser August posiert auf einem sorgfältig inszenierten und fotografierten Familienbildnis an dessen äußerst linkem Rand. Dieses Bild ist kein Schnappschuss wie Idas Andenken. August und die übrigen (vermutlich) Familienmitglieder haben sich anlässlich eines festlichen Ereignisses zusammengefunden. Ihre Kleidung ist von der Art, die man damals „Sonntagsstaat” nannte. Die Pose der Porträtierten ist künstlich, um nicht zu sagen „steif”. Für die technisch bedingten Belichtungszeiten damals, musste man ziemlich lange unbewegt in die Kamera gucken. Ein Grund, weshalb man aus dieser Zeit kaum Fotos mit lächelnden Menschen sieht.
Aber zurück zum Bild: August steht etwas abseits von der Gruppe. Ja, er steht so weit draußen, dass hinter ihm schon die Bühnenkonstruktion und Requisiten zu sehen sind, die eigentlich nicht auf das Foto gehören. Aus der Konstellation lässt sich ablesen, dass August nicht zum inner circle der Gruppe gehört. Ist er ein Gast? Ein entfernter Verwandter? Ein Freund der Familie? Nehmen wir an, seine Platzwahl ist von ihm selbst getroffen worden, dann kann man Augusts Bedürfnis sich abzusetzen überdeutlich erkennen. Möglicherweise aber fremdelt August auch nicht mit den Menschen, sondern mit der Dekoration der Szene. Vielleicht mag er diese „Baywatch”-Szenerie des frühen 20. Jahrhunderts nicht: (Strandkörbe! Und dann kein Sand! Pah!)
Das kann ja heiter werden. August ist wohl eher der ernsthafte Typ.