Archivarbeit
Der Wissensstand über Friedrich Koch: in 200 Jahren erstmals solide dokumentiert und aufbereitet
Hermann Schelenz’ „Geschichte der Pharmazie” von 1904 ist zweifelsfrei eine stupende Sammel-, Fleiß- und Denkarbeit über das jahrtausendealte Bemühen der Menschen, um in der Natur Mittel zu finden und anzuwenden, die Krankheiten lindern oder gar heilen. Dass ausgerechnet in diesem großartigen Werk der Name Friedrich Kochs mit keiner Silbe erwähnt wird, ist eine der Irritationen die schließlich zu meinem inzwischen sieben Jahre dauernden Recherche- und Dokumentarfilmprojekt führen sollten. Dass Friedrich Koch und damit sein Beitrag zur Chinin-Extraktion und -Fabrikation (mithin zur Herausbildung der chemisch-pharmazeutischen Industrie überhaupt) nicht einmal 40 Jahre nach seinem Tod auch in gut informierten Fachkreisen schon vergessen zu sein scheint, ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von noch folgenden Fehlleistungen der bisherigen Koch-Forschung.
Mein Film gründet auf sorgfältiger Recherchearbeit in öffentlichen Archiven, aber auch im Privatarchiv der Familie Kochs. Daher ist es auch keineswegs Übertreibung, wenn ich die Ergebnisse dieser Arbeit als erste solide Dokumentation in 200 Jahren bezeichne. Im Film werden exklusiv bislang weder bekannte geschweige denn veröffentlichte Daten und Fakten zum Wirken Friedrich Kochs und zu den Anfängen der chemisch-pharmazeutischen Industrie vorgestellt.
Die Geschichte Kochs und seiner weltweit ersten als industriell zu bezeichnenden Alkaloid-Fabrikation von kaum zu überschätzender Tragweite: für die Pharmaziegeschichte, aber auch für die Geschichte von Industrie, von Technologie, von Wirtschaft. Gerade in Zeiten, in denen nicht selten Geschichtsvergessenheit beklagt wird, kann sich anhand sorgfältig dokumentierter Begebenheiten zeigen, wie Auseinandersetzung mit greifbaren historischen Personen und deren Handeln zur Betrachtung der eigenen Gegenwart im 21. Jahrhundert, beitragen.
Von Sertürners seinerzeit zunächst wenig beachteten Entdeckung der Morphin-Extraktion 1805 bis zu Heinrich Emanuel Mercks Veröffentlichung seines Katalogs „Pharmaceutisch-chemisches Novitäten-Cabinet” 1827 brauchte es nur 22 Jahre, Friedrich Kochs Aufstieg vom sehr wahrscheinlich kreditschuldengebeugten „Apothekergehülfen” zum erkennbar wohlhabenden Unternehmer dauerte nur zwölf Jahre. In dieser verhältnismäßig kurzen Zeitspanne auf dem sehr überschaubaren Territorium der kleinen Reichsstadt am Rhein, Oppenheim, wird wie unter einem Vergrößerungsglas der Beginn dessen, was man bald darauf „industrielle Revolution” nennen wird, fassbar und verständlich. Dass diese Betrachtung zum Selbstverständnis der Branche beitragen muss, versteht sich von selbst.
Und weil in der heutigen Zeit Bewegtbilder als Mittel der Wahl zur Informationsverbreitung gelten, habe ich einen gut halbstündigen, nahezu vollständig 3D-animierten Dokumentarfilm zum Thema hergestellt.

Die Löwenapotheke
Erste Schritte in der Weltgeschichte der Industrie
Über die frühen Jahre Johann Friedrich Ludwig Kochs ist nur weniges (und das auch nur schemenhaft) bekannt. 1786 in Messel bei Darmstadt in die Familie des Pastors Henrich (schreibweise im Kirchenbuch!) Adam Koch und seiner Frau Sophia Elisabetha geboren, ein ein Jahr älterer Bruder. Welchen Bildungsweg Friedrich Koch eingeschlagen hat, lässt sich kaum nachvollziehen. So ist etwa die behauptete Apothekerlehre an der Schlossapotheke in Zwingenberg denkbar, aber nicht belegt. Ein Koch angedichtetes Pharmaziestudium in Gießen dagegen lässt sich sehr leicht widerlegen.
Koch hatte oft Pech mit seinen Biografen.
Tatsache ist, dass Friedrich Koch am Montag, dem 9. April 1821, mittags im Oppenheimer Rathaus eines der prächtigsten Gebäude der Stadt und die darin ansässige „Löwenapotheke” ersteigert hat. Mit diesem Datum tritt der hessische „Apothekergehülfe” erstmals in der Weltgeschichte der Industrie auf.
Auch wenn die frühen Oppenheimer Jahre Kochs sicher nicht ganz nach dessen Wunsch und Vorstellung verlaufen sind, so lassen sich in jener Zeit sein Ziel und der Plan, dieses zu erreichen, deutlich erkennen. Denn ausgelöst durch Friedrich Sertürners Entdeckung der Extraktion von Morphin aus dem Saft des Schlafmohns (1805, erstmals publiziert 1806, jedoch erst nach der zweiten Publikation 1817 von der Fachwelt überhaupt wahrgenommen) zeichnete sich in der damals bekannten Pharmazie eine Revolution ab: seinerzeit „Pflanzenchemie” genannt. Die Möglichkeit aus in ihren therapeutischen Wirkungen bekannten Pflanzen reine Wirkstoffe extrahieren und somit konzentriert dosieren zu können. Friedrich Koch hatte sich vorgenommen, ein wichtiger Antrieb dieser um ihn herum anhebenden Revolution zu sein. Sein Thema war das aus der Rinde des Chinarindenbaums gewonnene Alkaloid Chinin zur Bekämpfung der damals am unteren Oberrhein grassierenden Malaria. Was Koch nur vorsichtig ahnen konnte, sich aber bald herausstellen sollte, ist, dass er damit eine sehr richtige Wahl getroffen hatte. Dass er damit gleichzeitig die chemisch-pharmazeutische Industrie erfand, erweist sich als eine der bemerkenswerten Launen der Weltgeschichte.

Open Source Community
des 19. Jahrhunderts
Friedrich Kochs Erfolg ist neben aller individueller Leistung nicht ohne die Gemeinschaft der Pharmazeuten, Händler und Zulieferer zu begreifen. Daher messe ich bei meinen Betrachtungen Kochs Umfeld hohen Wert bei: da ist zuerst Heinrich Emanuel Merck zu nennen, seinerseits Apotheker und finanziell potenter Unternehmer mit großen Zielen. Merck und Koch scheinen eine bisher kaum aufgearbeitete engere Geschäftsverbindung gehabt zu haben, die gute Gründe für eine Hypothese über Kochs Beginn in Oppenheim nahelegt.
Da sind aber auch Friedlieb Ferdinand Runge und seine Veröffentlichung erster Gedanken über eine Chinin-Extraktion schon 1819 in der Zeitschrift „Isis”. Da sind die Franzosen Pelletier und Caventou. Da sind Händler wie Geigy in Basel, Jobst in Stuttgart, aber auch weitere, kooperierende Apotheker nah und fern. Mit vielen von ihnen – so ist Kochs Fakturabuch der Jahre 1825 bis 1831 zu entnehmen – wickelt der Oppenheimer Apotheker Gegenseitigkeitsgeschäfte ab.
Ein Netzwerk, lange bevor der Begriff „Netzwerk” überhaupt erfunden war.

Dem unbekannten letzten Abnehmer
Eine Revolution
Welche Eigenschaften musste eine Fabrikation im 19. Jahrhundert gehabt haben, um „Industrie” genannt zu werden. So viel war sicher: Großherstellung allein konnte nicht das bestimmende Merkmal sein. Derlei Betriebe gab es auch schon im 18. Jahrhundert. Um die Definition einer (frühen) Industrie zu schärfen, musste es weitere Kriterien geben. Tatsächlich wird da neben dem Einsatz von Kraftmaschinen (entweder um Arbeit zu sparen oder auch um mit Körperkraft nicht Leistbares überhaupt erst möglich zu machen), der Arbeitsteilung, also einem Neben- und Miteinander hoch- und geringqualifizierter Arbeitskräfte ein entscheidendes Kriterium beigeordnet: die Abwendung von der bis dahin apothekenüblichen Einzelanfertigung gemäß der einen Verschreibung für den einen konkreten Patienten hin zu einer Absatzproduktion fabrizierter Produkte für den (in der Volkswirtschaftslehre) so genannten „unbekannten letzten Abnehmer”. Dazu bedurfte es auch einer Reihe von notwendigen Entdeckungen (bzw. deren zeitlich-glücklichem Zusammentreffen) und/oder folgerichtiger Verbesserungen von Technologien, Verfahren, wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Zu Kochs Verdiensten gehört es zweifelsfrei, diesen einen entscheidenden Schritt zu gehen: Die Arzneimittelproduktion aus dem engen Apothekerlaboratorium herauszuführen, sich zur Absatzproduktion zu entschließen. Also, ein nicht unerhebliches wirtschaftliches Risiko einzugehen, um den Preis einer raschen und erheblichen Akkumulation von Kapital auf seinen Betrieb. Kochs Aufstieg in der Oppenheimer Gesellschaft innerhalb von nur zwölf Jahren ist ein beredtes Beispiel für im frühen 19. Jahrhundert mögliche Karrieren. Eng mit dieser Entwicklung verknüpft sind Namen wie MERCK, RIEDEL, SCHERING, JOBST, TROMMSDORFF und viele andere mehr. Ein Netzwerk von ebenso begabten Forschern wie risikobereiten Unternehmern – manchmal sogar in Personalunion.

Ältestes Fakturabuch der Pharmaindustrie
Soll und Haben
Friedrich Kochs Fakturabuch der Jahre 1825-1831 ist das (bisher bekannt) älteste Rechnungsbuch in der Geschichte der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Wenn man so will: deren Geburtsurkunde. Darin dokumentiert sind Geschäftsbeziehungen, in denen Koch als Fabrikant auf eigene Rechnung, aber auch in Lohnproduktion für Kollegen Chinin und chininhaltige Produkte herstellt und handelt. Lieferradius und Umsatzvolumen nehmen sukzessive zu und markieren auch die Stationen von Kochs gesellschaftlichem Aufstieg in der Oppenheimer Stadtgesellschaft. Die hier dokumentierten Rohstoffeinkäufe und Materialanschaffungen lassen wichtige Rückschlüsse auf Kochs Herstellungsverfahren zu. In diesem Fakturabuch finden sich ebenfalls Hinweise auf etwas, das es nicht mehr gibt: nämlich Bezugnahmen auf ein noch älteres Fakturabuch für den Zeitraum vor 1825 …