Impuls zu einem historischen Mixed Media Projekt:
Zeitmarke 1823: Wie so oft steht auch am Anfang unseres Projekts über Friedrich Koch in Oppenheim und den von ihm hier in Gang gesetzten weltweiten Anfang der industriellen Pharmaproduktion eine Irritation: Da kommt ein gelernter Apotheker als knapp Vierzigjähriger aus dem hessischen Darmstadt ins erst fünf Jahre zuvor auf der politischen Landkarte aufgetauchte Rheinhessen, übernimmt eine Apotheke und beginnt neben seinem Tagesgeschäft als Apotheker rasch mit der Herstellung eines Wirkstoffs, um eine in der Region grassierende Fieberkrankheit, die Malaria am Rhein, wirkungsvoll zu bekämpfen. Streng genommen lässt sich Koch mit heutigen Worten zutreffender als Start-Up-Unternehmer, als technikaffiner Entrepreneur beschreiben als als ein biedermeierlicher Teilnehmer des Oppenheimer Honoratioren-Stammtischs. Denn: Koch wird hier eine der ersten (die erste?) industrielle Pharmaproduktion der Welt starten. In Oppenheim. Dabei wird er die neuesten Technologien seiner Epoche für diesen Zweck zum Einsatz bringen.
Es sind sehr verschiedene Faktoren, die zur Entstehung der (pharmazeutischen) Industrie Anfang des 19. Jahrhunderts beitragen. Chemisch-pharmazeutisch ist da die Entdeckung der Alkaloide und der aufwendigen Verfahren, diese aus pflanzlichen Grundstoffen abzuscheiden. Friedrich Wilhelm Sertürner hatte diese Erkenntnisse 1804 in Paderborn mit der Gewinnung von Morphin aus Schlafmohn erstmals praktisch zur Anwendung gebracht. Rasch folgten weitere Apotheker, Forscher und Tüftler mit weiteren Verfahren zur Gewinnung pflanzlicher Heilmittel. Eine neue Welt der Medikamente erschloss sich der Menschheit.
Schon seit der Antike wussten die Menschen um die Kraft des Wasserdampfes. Aber erst im 17. Jahrhundert begann man diese Kraft mittels Maschinen zu beherrschen. Diese ersten Dampfmaschinen wurden weiter entwickelt, so dass sie (vor allem in England) im 18. Jahrhundert ein wichtiges Bindeglied waren, um aus der protoindustriellen Epoche in das Zeitalter der Industrialisierung überzuleiten.
Und schließlich spielt vor allem in Kontinentaleuropa ein weiterer Faktor eine entscheidende Rolle. Die Zollgesetzgebung jener Jahre öffnet sich den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfordernissen. Der Austausch von Grundstoffen und eben auch pharmazeutischen Produkten wird von den Legislativen der Partikularstaaten deutlich erleichtert.
Heute zweifelt niemand daran, dass Koch als einer der ersten Anwender der Alkaloidgewinnung und technologischer Entwickler einer zu jener Zeit völlig neuen Art der Pharmaproduktion gehört: Wie sooft hat freilich auch diese Erfolgsgeschichte viele Väter. Und deshalb will unser Projekt „Zeitmarke 1823” nicht eine einsame Einzigartigkeit Friedrich Kochs behaupten, sondern das Zusammenwirken der verschiedenen Menschen und Faktoren präzise betrachten, dokumentieren und medial aufbereiten.
Und wenn man dieses Zusammenspiel von Ideen, Menschen, Technologien auf sich wirken lässt, dann kann man erkennen, dass direkt vor unseren Augen, wie unter einem Vergrößerungsglas der Urknall der Entstehung einer damals völlig neuen Art von Wirtschaft zu betrachten ist: die Herausbildung einer industriellen Pharmaproduktion. Die Erfindung einer Industrie, noch bevor (in Kontinentaleuropa) Industrie überhaupt existiert!
Epochenwechsel
Friedrich Koch beginnt also in einer Zeit, die bezüglich Deutschlands bzw. Kontinentaleuropas durchaus zutreffend als protoindustriell bezeichnet wird, in einem quasi ausschließlich landwirtschaftlich geprägten Umfeld eine Industrieproduktion, längst bevor man überhaupt von Industrialisierung zu träumen wagte. Mehr noch: Friedrich Koch revolutioniert die Herstellungstechnologien seines Berufsstandes, der bis dahin seit Jahrtausenden individuelle Maßanfertigung für einzelne Patienten betrieb, in der Offizin in feinsten Mengen Substanzen mittels Spatel auf Feinwaagen häufelte. Friedrich Koch brachte die technologische Phantasie auf, das bis dahin nur aus dem Bergbau bekannte lärmendste, monströseste, schwerste technische Gerät seiner Zeit, die Dampfmaschine, in eben jenen pharmazeutischen Fertigungsprozess zu integrieren. Der Wiesbadener Chemiker und Wissenschaftshistoriker Dr. Ernst Schwenk formuliert deshalb: „Die Wiege der Pharmaindustrie stand in Oppenheim”. So fern eine Dampfmaschine vom poetischen Bild der Wiege auch entfernt sein mag, lässt es sich kaum von der Hand weisen, dass Friedrich Koch in Oppenheim am Rhein die Pharmaindustrie hervorgebracht hat oder zumindest zu deren Ur-Vätern gezählt werden muss. Denn ohne Kooperation, Austausch von Ideen, Methoden und Produkten wäre diese rasante Entwicklung von protoindustrieller Zeit hin zur (Dampf)maschinenbetriebenen Industrialisierung kaum möglich gewesen. Zeitmarke 1823 markiert einen gewaltigen wissenschaftlichen, technischen und wirtschaftlichen Umbruch nicht nur des prototypischen „Apothekenbetriebes“: aus dem Arzneizubereitungsmonopol, das von seinen Arbeitern reiche Erfahrungen praktischer und wissenschaftlicher Art verlangte, wurde allmählich ein nach kaufmännischen Grundsätzen geleitetes Handelsinstitut. Hier unterscheidet sich Friedrich Koch allerdings erheblich von den meisten seiner oft bis heute namhaften Mitstreiter wie Merck im nahen Darmstadt, Riedel in Berlin, Geigy in Basel, Jobst in Stuttgart und vielen anderen mehr. Aus Kochs dampfmaschinenbetriebener Produktion ging keine heute milliardenschwere Unternehmung hervor. Die Antwort auf die Frage nach dem Warum ist (noch) spekulativ: Es scheint, als sei Kochs Blick ein lokaler Ausschnitt des Großen und Ganzen gewesen. Seine Problemstellung leitete sich aus dem lokalen Erfordernis ab, die Malaria in und um Oppenheim zu bekämpfen. Sicher wiesen einige kommerzielle Schritte Kochs auch auf einen Eintritt in den rasch wachsenden Weltmarkt hin. Doch diese Schritte ging Koch nicht so konsequent wie seine Mitbewerber. Das mag auch einer der Gründe dafür sein, dass Koch von den Verfassern historischer Forschungsarbeiten wenig oder gar nicht beachtet beachtet wurde und wird.
Was für eine Leistung technologischer Kreativität!
Pharmaproduktion als Motor der Industrialisierung in Europa. Und Friedrich Koch war – um im Bild zu bleiben – dessen Anlasser. Was für eine Leistung technologischer Kreativität! Was für eine kluge Entscheidung! Der Einsatz von Schwermaschinentechnologie zur Skalierung der Produktion einer feinst dosierten kristallinen fiebersenkenden Arznei zur Malariabekämpfung.
Und eines noch: Friedrich Koch war sich der Hochpreisigkeit seines reinen, kristallinen, höchst wirkungsvollen Chinins in den ersten Jahren seiner Produktion durchaus bewusst. Doch da sein Ziel die Bekämpfung der Malaria am Rhein war und diese Krankheit unabhängig vom Geldbeutel jeden treffen konnte, sah sich Koch vor die Aufgabe gestellt, den Wirkstoff in geringeren Reinheitsgraden etwa als Chininoid preiswerter als sein Premiumprodukt anzubieten.
In dieser Geschichte sind so viele erstaunliche Aspekte enthalten: Beschäftigung mit modernster pharmazeutischer Methode, Erkennen der Möglichkeiten der Dampfmaschine noch bevor es (außer im Bergbau) Beispiele zu deren praktischer Anwendung gibt, der Wille, wirksame und erschwingliche Medikamente herzustellen, durchaus die Perspektive, durch Investitionen, Forschung und Distribution erheblichen Reichtum zu erwirtschaften usf.
Fassen wir es kurz zusammen: Bis zur Zeit Friedrich Kochs in Oppenheim bedeutete Pharmazie maßgenaue Einzelanfertigung. Mit Kochs technologischer Kreativität und seiner unternehmerischen Phantasie wurde diese Methode der Einzelanfertigung zur skalierbaren seriellen Industrieproduktion unter Einsatz neuester chemischer, Schwermaschinen- und Transmissionstechnologie. Die Produktivität wuchs exponentiell. Und die Erträge selbstverständlich auch.
Die Zeitmarke 1823 stellt dabei einen kaum überzubewertenden Wendepunkt dar: die Marktreife eines neuen, vom Markt dringend nachgefragten Produkts. Zunächst im Stadium eines MVP (minimal valuable product).
Perspektivwechsel
Und wo ist nun die eingangs erwähnte Irritation? Nun, das Irritierende an der Betrachtung dieser Leistung Friedrich Kochs ist, dass sie gemessen an ihrer Bedeutung (und im Vergleich mit vielen anderen ähnlich gelagerten Entdeckungen und Erfindungen anderer Persönlichkeiten) kaum gebührend bekannt ist, geschweige denn gewürdigt wird. Schon in Hermann Schelenz‘ atemraubend klugem, historischem, monumentalem Denk- und Sammelwerk „Geschichte der Pharmazie” (von 1904), wird Friedrich Koch mit keiner Silbe erwähnt. Mit Ausnahme etwa der Arbeiten des Wiesbadener Chemikers und Fachautors Dr. Ernst Schwenk gibt es kaum weitere belastbare Veröffentlichungen. Und leider klammern die wenigen Veröffentlichungen wichtige biographische, wissenschafts- und technologiehistorische Aspekte aus und/oder schreiben offensichtliche Fehler wieder und wieder fort.
Möglicherweise ändert eine genauere Erforschung von Friedrich Koch und seinem Wirken die Welt nicht. Aber sicher ändert sie den Blick auf die Welt des Biedermeier, auf die Welt der Wissenschafts- und Technologiegeschichte, öffnet Einsichten, die bis in unsere Zeit tragen und wirken. Der Vergleich mit dem Urknall spitzt bildhaft zu, worum es sich handelt. Die Entstehung einer ganzen Industrie aus einer Anfangssingularität. Deren Faktoren sind: Für eine Problemlösung kooperierende, kreative Menschen an verschiedenen Orten, entwickelte Technologie und Verfahrenstechnik, Investitionsbereitschaft und auch unternehmerischer Mut führen dazu, dass das „Universum pharmazeutische Industrie” entsteht. Friedrich Koch leistete zu diesem „Urknall” einen bedeutenden Beitrag.
Und ganz im Sinne des Gedankens von Heimatforschung 4.0 machen wir uns daran, das Wissen über Friedrich Koch und Oppenheim als Ort einer der weltweit ersten industriellen Pharmaproduktionen neu zu sortieren, aufzubereiten und mit den verschiedensten Medien zu vermitteln. Stand heute bedeutet das auch, die biographische und wissenschaftsgeschichtliche Topographie um den Ort Oppenheim zu ergänzen.
Staunen, (emotional und intellektuell) berührt werden, erleben und erfahren
Am Anfang ist die Recherche. Es folgt der Entwurf der Möglichkeiten, das Recherchierte zu vermitteln. Ich bin überzeugt, dass die Erfahrbarkeit (auch) von historischen Ereignissen, das Erkennen von Zusammenhängen bei Menschen immer auch ein Lernen auslösen. Wenn Aristoteles im Staunen den Anfang der Philosophie erkennnt, ist das ein wichtiger Hinweis in die richtige Richtung, aber noch längst nicht das Ganze. Denn: man kann die meisten Menschen nicht mit ihrem Staunen allein lassen und hoffen, dass sie so zu Philosophen werden. Entscheidend ist dass sie vom Gegenstand ihres Staunens auch berührt werden. So entstehen Erlebnisse und schließlich Erfahrungen.
Warum Friedrich Koch?
Koch ist ein Mensch des Biedermeier. Doch hinter dem Mann auf dem Ölgemälde, mit der komischen Mütze auf dem Kopf verbirgt sich jemand, denn wir heute als Start-Up-Unternehmer, als early adaptor, als Entrepreneur, als Marketingtalent(!) bezeichnen müssten. Friedrich Koch hat erheblich dazu beigetragen, alte Handwerkstechniken und neueste Technologien zu verknüpfen. Damit hat er in einer Zeit, die den Begriff „Industrie” noch gar nicht kannte, zu einer neuen Industrie verholfen: zur Pharmaindustrie.
Und übrigens: Wie alle Unternehmer jener protoindustriellen Zeit hat auch Friedrich Koch seine technologische und wirtschaftliche Unternehmung damals mit Eigenkapital finanziert.
Warum jetzt?
1823 hatte Koch seine Technologie und sein Produkt zur Marktreife entwickelt. Die Strategen der Start-Ups nennen diese Phase das MVP (minimal viable product). Wir finden, dass 2023 ein guter Anlass ist, um an dieses gleich in vielfältiger Hinsicht bemerkenswerte Handeln Friedrich Kochs zu erinnern. 1823 ist eine Zeitmarke, die man angesichts ihrer Folgen gar nicht genug hervorheben kann.
Wie?
Eine Vermittlung dieses komplexen historischen Prozesses, der Erfindung der Pharmaindustrie durch Koch und einige andere mutige und tatkräftige Männer in jenen Jahren, hat mittels medialer Aufbereitung die größten Chancen, sein Publikum zu erreichen. Zentrales Element wird ein Dokumentarfilm sein, indem wir alles aktuelle Wissen über Friedrich Koch und seine industrielle Chinin-Produktion in Oppenheim zusammentragen, ergänzen, Fehler vergangener Autoren korrigieren, offene Fragen klären. Wichtig wird für dieses Projekt auch sein, eine gute Übersicht über die Teilaspekte von Kochs Wirken zu erarbeiten. Beginnend mit seiner Ausbildung, den wissenschaftlichen Einflüssen, der Darstellung des Wissens- und Technologietransfers jener Zeit, Vorbilder, Kollegen etc. Wichtig ist es, die Kontexte Friedrich Kochs sowohl biographisch wie auch wirtschafts- und wissenschaftsgeschichtlich zusammenzutragen und für ein Publikum des 21. Jahrhunderts aufzubereiten. Ebenfalls betrachten wir die Dampfmaschine, die ausgerechnet um 1830 endlich eine Energieeffizienz und einen Wirkungsgrad erreichte, um als Kraftmaschine überhaupt sinnvoll außerhalb von Kohlegruben eingesetzt werden zu können. Nicht zuletzt müssen wir uns der Lebensverhältnisse in und um Oppenheim widmen und die Frage beantworten, wie es zu einem gehäuften Auftreten von Malaria am Rhein kommen konnte.
Neben dem geplanten Film bieten sich – darauf aufbauend – mittelfristig verschiedene Medien zur Präsentation von Einzelaspekten an. Eine Webseite zum Thema, die zu einem Aggregator von Informationen zur Geschichte der Pharmazie im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert entwickeln wird. Geplant ist für die kick-off-Veranstaltung im September 2023 eine temporäre mediale Installation, die die Dampfmaschine in den Fabrikräumen von Friedrich Koch (die heute noch im Besitz von dessen Familie sind) anschaulich machen wird. Warum nicht mit Schülern aus Leistungskursen den Prozess nachvollziehen, den Koch zum Gewinnen des Chinins aus Chinarinde angewendet hatte? Warum keine App entwickeln, die Besuchern Oppenheims den „Kosmos Koch” anschaulich und begreiflich macht? Warum keine Gesprächsplattform bieten, auf der junge Nachwuchsforscher der Wissenschaftsgeschichte ihre Erkenntnisse austauschen und möglicherweise sogar neue Forschungsthemen entwickeln? Der kick-off unseres Projektes orientiert sich an der Zeitmarke 1823, 200 Jahre danach. Die meisten Menschen lieben Jubiläen. Und einige würdigen die Erinnerungen in Jubiläumsjahren tatsächlich besonders. In den folgenden Jahren wollen wir unser Wissen über Friedrich Koch weiter in Oppenheim thematisieren und mit den Menschen teilen.
Zusammenfassung der historischen Ausgangsposition:
Wir schreiben das Jahr 1821, als ein Darmstädter Apotheker namens Friedrich Koch in Oppenheim eintrifft. Der Mittdreißiger kommt, um zu bleiben. Hier, am linken Rheinufer, nur etwa 20km Luftlinie von der Landeshauptstadt, Darmstadt, entfernt, will er sich niederlassen, eine Apotheke übernehmen, ein angesehener und nützlicher Bürger der Stadt werden. Auch wenn es schwer ist, in Köpfe zu schauen, so lässt sich aus Indizien schließen, dass Koch vor etwa 200 Jahren sehr wahrscheinlich einen Plan hatte, der ihn über eine Position als örtlicher Apotheker hinauswachsen lassen wird: Streng genommen lässt sich Koch mit heutigen Worten zutreffender als Start-Up-Unternehmer beschreiben als als ein biedermeierlicher Teilnehmer des Honoratioren-Stammtischs. Denn: Koch wird die vermutlich erste industrielle Pharmaproduktion der Welt in Oppenheim starten. Und er wird dafür die neuesten Technologien seiner Epoche für seine Zwecke selbst zum Einsatz bringen. Zur Zeitmarke 1823 erlangt sein Produkt Marktreife. Er annonciert und klärt den Markt auf. Auch wenn eine Dampfmaschine aus heutiger Perspektive nur noch wie ein antiquiertes Monstrum aussehen mag, zuzeiten Kochs war sie brandaktuelle Spitzentechnologie, zu deren Bedienung der Pharmaunternehmer extra einen Arbeiter aus England (wo man sich mit Dampfmaschinen schon bestens auskannte) einstellte. Und als 1830 die erste Dampfmaschine auf dem Hof der Familie Koch installiert wurde, war das ein wichtiges und Aufsehen erregendes Ereignis … mit einem lustigen Nebeneffekt: Die erste Dampfmaschine in Oppenheim bei den Kochs bedeutet auch, dass die Familie die erste Badewanne der Stadt besitzt. Warmes Wasser hatten die Kochs jener Zeit nämlich im Überfluss.
Apropos! Der chemisch-technische Prozess, den Koch für seinen Fertigung anwenden wird, ist ebenfalls sehr modern und der interessierten Menschheit zu dem Zeitpunkt erst 19 Jahre bekannt. Friedrich Wilhelm Sertürner hatte 1804 in Paderborn erstmals ein Alkaloid isoliert: Morphin aus dem Saft des Schlafmohns. Die Technologie der Alkaloidabscheidung war damals sehr vielversprechend. Und so hatte Friedrich Koch sich zum Ziel gesetzt, das Alkaloid Chinin aus der Rinde des Chinabaumes abzuscheiden, um ein ganz konkretes Gesundheitsproblem in seiner nächsten Umgebung wie auch in weiten Teilen der Welt zu lösen. Koch hatte sich vorgenommen, die am Rhein verbreitete Malaria zu bekämpfen. (Viele der heute noch tätigen Pharmaunternehmen wurden im 19. Jahrhundert gegründet. Zu den wichtigsten Technologien, die schon früh zu deren Erfolg beitrugen, zählten die immer mehr optimierten und spezialisierten Verfahren zur Alkaloidabscheidung.)
Die durch Friedrich Koch angeführte historische Episode ist eine weitere bemerkenswerte Geschichte in der an Geschichten nicht armen Stadt Oppenheim. Doch sollten sich noch ein paar offene Fragen zur Chinin-Herstellung in Oppenheim beantworten lassen, dann kann sich diese Episode als Bestandteil einer weltweiten Wirkung einordnen lassen.
Damit wird zwangsläufig auch klar, dass – wenn unser Vorhaben gelingen soll – der Kreis deutlich weiter als nur um Oppenheim gezogen werden muss. Da ist zuerst Kochs Herkunft aus Darmstadt, seine Berufswahl als Apotheker. Obwohl es heißt, Koch habe seine Ausbildung im nahen Zwingenberg absolviert, müssen wir weitere Einflüsse befragen und können so möglicherweise allgemeingültige Antworten erkennen. Laut Fakturbuch des Jahres 1825 und folgende stand Friedrich Koch in regem Austausch mit Rohstoff- und Drogengroßhändlern, mit anderen Pharmazeuten, Apothekerkollegen. In Darmstadt spielt zu jener Zeit Emanuel Merck eine wichtige Rolle bei der Hervorbringung industrieller Pharmaproduktion. Auch Merck erforscht den Stammbaum der damals bekannten 16 Alkaloide, arbeitet an Verfahren zur Gewinnung von Wirkstoffen und zur Entwicklung von Medikamenten. Möglicherweise lassen sich hier bei genauerem Hinsehen deutlich intensivere Einflüsse des Erfurter Apothekers Johann Bartholomäus Trommsdorff auch auf Koch erkennen. Immerhin prägte Trommsdorff eine ganze Generation von Pharmazeuten in jener Zeit. Wie genau kam Friedrich Koch mit den Arbeiten von Sertürner und Runge in Kontakt, wieso inspirierte ihn ausgerechnet der Fachartikel über die Gewinnung von Chinin aus der Chinarinde der französischen Berufskollegen Pelletier und Caventou? Welche Gedanken könnten Koch zur Skalierung seiner Produktion geführt haben. Wohlgemerkt, wir sprechen von der Zeitmarke 1823, also lange vor der Etablierung dessen, was wir heute so selbstverständlich „industrielle Produktion” nennen.
Noch mehr Fragen und Wege zu den Antworten
Koch beginnt nachweislich 1824/25 mit der Produktion von Chinin in nicht unerheblichem Ausmaß mit ebenfalls nicht unerheblichen Auswirkungen auf ein damals bestehendes Netzwerk aus Importeuren, Apothekerkollegen, Forschungsreisenden etc. etc. Viele Ereignisse in Kochs Biographie und bei seiner Produktion lassen sich nur durch Rückschlüsse rekonstruieren. So müssen noch einige Fragen an die geschichtlichen Hergänge jener Zeit gestellt werden.
Etwa:
- Lässt sich rekonstruieren, wie Sertürners Entdeckung ihren Weg zu Friedrich Koch fand? Gibt es Verbindungen zu dem fast gleichaltrigen, damals sehr einflussreichen Pharmazeuten Johann Bartholomäus Trommsdorff?
- Wie wichtig sind Kooperationen und Netzwerke in jener Zeit? Namentlich die belegte Zusammenarbeit mit Emanuel Merck, der etwa zur selben Zeit im nahen Darmstadt ebenfalls eine Alkaloid-Verarbeitung beginnt, Austausch von Wissen und Material mit der Firma Geigy, Handelskontakte zum Stuttgarter Drogenkaufmann Friedrich Jobst.
- War die nicht geringe Wahrscheinlichkeit in der Gegend um Oppenheim an Malaria zu erkranken (und deshalb die Krankheit hier wirksam zu bekämpfen) ein leitendes Motiv für Friedrich Koch?
- Immer wieder wird kolportiert, Koch habe Schwierigkeiten gehabt, seine Qualifikation vom rheinhessischen Medicinalkollegium anerkennen zu lassen: Wie kann das sein, wenn doch Mainz und Rheinhessen zu jener Zeit seit fünf Jahren dem Darmstädter Großherzog zugeschlagen worden waren?
- Wie entsteht Kochs Affinität zu neuesten Technologien? Welche wirtschaftlichen Vorteile sind daraus für Koch entstanden?
- Wirkte sich die Installation und Anwendung neuester Technologien auf die Stadt Oppenheim und ihre Umgebung aus?
- Konnte Kochs Produkt die Malaria in der Region wirksam zurückdrängen?
Tatsache ist: Mit der Zeitmarke 1823 erreicht das Chinin aus der Apotheke Friedrich Kochs Marktreife, so dass der angehende Pharmahersteller mit Marktforschung und Marketing beginnen kann. Koch schaltet Annoncen, kündigt sein Produkt an und klärt den Absatzmarkt auf. Diese Zeitmarke 1823 nehmen wir zum Anlass, um diese historische Episode genauer zu betrachten, ihre Aspekte auszuleuchten und unsere Erkenntnisse zeitgemäß mittels verschiedener Verbreitungsformen einem interessierten (oder noch zu interessierenden) Publikum zur Verfügung zu stellen.
Kochs Einfluss auf nachfolgende pharmazeutische Fertigungsmethoden, auf Skalierbarkeit von Produktionsprozessen, auf Rohstoffbeschaffung und Vertrieb fertiger Produkte, Einsatz zeitgenössischer Hochtechnologie kann nicht hoch genug bewertet werden. Andere Apotheker folgten zügig seinem unternehmerischen Beispiel (oder entwickelten völlig ohne Wissen um Koch ähnliche Verfahren). Nicht wenige übertrafen ihn in Bezug auf Effizienz und Ertrag. Doch sogar am Preisverfall des Chinins am wachsenden Markt, lässt sich bei genauem Hinsehen der erfolgreiche Einfluss Friedrich Kochs auf eine entstehende Branche erkennen: pharmazeutischer Wissenszuwachs und Hightech des Biedermeier sind die Wurzeln heute weltumspannender Pharmaunternehmen. Friedrich Koch ist einer ihrer Väter.
Ausgehend von der Zeitmarke 1823 wollen wir diesen historischen Umstand gründlich und verständlich beleuchten.